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Die große Täuschung

Von Thomas V Weiss

 

Die große Täuschung

 

Seit gut 30 Jahren erleben wir eine stetige Verschlimmerung politischer, wirtschaftlicher und sozialer

Zustände. Stellen- und Sozialabbau, Austerität, Privatisierung, Aufrüstung und zunehmende

Perspektivlosigkeit sind an der Tagesordnung. Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Die

Masse wird täglich ärmer, ein relativ kleiner elitärer Kreis reicher. Der Normalbürger reagiert auf diese

Umstände, wie er es gelernt hat: Es sei halt alles so wie es ist und man könne eh nichts daran ändern.

Und so unterstützt er mit seinem Konsum, seiner Arbeit, seinem Wahlverhalten und seiner

Abwesenheit von eigenständiger kreativer sowie denkerischer Kraft, genau jenes System, das ihn

versklavt und verarmen lässt, sowohl in monetärer wie auch in geistiger Hinsicht.

 

Aber ist dieser Gedanke nicht etwas zu weit hergeholt? Ist es nicht so, dass es uns eh noch halbwegs

gut geht? Keineswegs! Die Wirklichkeit lässt sich an einer Tendenz messen. An einer Tendenz, die

genau jenes Schreckensszenario in gruselig anschaulicher Form bestätigt.

 

Wir erleben zur Zeit vielerlei Debatten darüber, welche Kandidaten für welches politische Amt wohl am

besten geeignet und welche das kleinere Übel wären. So fürchten sich zur Zeit in Deutschland etwa

breite Schichten der Bevölkerung vor einem möglichen Bundeskanzler Friedrich Merz. Dabei ist es

eigentlich völlig egal, wer an der Spitze der Politik sitzt, da man getrost davon ausgehen kann, dass

diese Person sorgfältig ausgewählt wurde und dass sie brav genau die Politik macht, von der hier die

Rede ist: Dem Neoliberalismus.

 

Wer seine eigene Gutgläubigkeit für einen Moment verlässt und den Tatsachen ins Auge sieht, wird

schnell erkennen, dass Global Player wie BlackRock, Vanguard oder Goldman Sachs wesentlich mehr

Macht besitzen als irgendwelche Staatsoberhäupter, wird schnell erkennen, dass die wahre Politik in

elitären Wirtschaftskreisen erdacht und durch diese gesteuert wird. Dabei sind auch diese Kreise, die

in Thinktank- und Stiftungslandschaften solide vernetzt sind, nicht das Übel an sich.

 

Auf der Suche nach Schuldigen tendieren wir stets dazu, diese in menschlichen Gestalten

festzumachen und natürlich sind Menschen für die Bildung eines Systems verantwortlich. Man kämpft

jedoch gegen Windmühlen, versucht man ein System wie den Neoliberalismus allein durch Wahlen zu

bekämpfen oder indem man etwa versucht, einzelne Personen durch andere zu ersetzen. Der

Neoliberalismus ist längst zum Selbstläufer geworden. Er ist längst zur Ordnung geworden und muss

daher als Idee und System bekämpft werden.

 

Leider geschieht dies aber kaum. Der meiste Widerstand basiert auf Fehleinschätzungen und verläuft

auf einer systematischen Ebene. Wenn zum Beispiel die österreichische Arbeiterkammer für soziale

Gerechtigkeit in der Wirtschaft kämpft, so geschieht dies immer nur symptomatisch, nie ursächlich.

Das ist so, als würde man sich für eine bessere Behandlung von Sklaven einsetzen, anstatt für das

Ende der Sklaverei. Ein dummer Vergleich? Keineswegs! In den EU-Staaten ist Armut bereits weit

verbreitet viele Menschen lassen sich so ziemlich alles gefallen, um ihren Arbeitsplatz zu erhalten, weil

sie andernfalls auf der Straße säßen.

 

Der Neoliberalismus hat längst alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unter seiner Kontrolle und

es ist ein trauriges Faktum, dass er noch aggressiver und zerstörerischer als sein geistiger Vater - der

Kapitalismus - ist. Die nächsten Jahre werden gekennzeichnet sein von einer weiter

voranschreitenden Verarmung breiter Schichten und von einer zunehmenden Überwachung der

Bürger. Wir werden erleben, wie Konzerne noch mehr Macht erlangen, die Gehälter gekürzt werden,

Sozialleistungen gestrichen werden, das Pensionsantrittsalter in die Höhe gesetzt wird, Lohndumping

betrieben und eine noch aggressiver Außenpolitik uns dem dritten Weltkrieg näher bringen wird.

 

Man darf sich von dieser Politik keine positive Veränderung erwarten. Man darf nicht erwarten, dass

plötzlich die Massentierhaltung abgeschafft wird oder Sozialleistungen merklich verbessert werden.

Das ist in einem System, welches auf Profitmaximierung, ewigem Wachstum und beinharten

Wettbewerb basiert, auch gar nicht möglich.

 

Da es kaum möglich sein wird, das System und seine vorgeblendete Scheindemokratie durch

politische Maßnahmen - von wenigen lobenswerten Bewegungen abgesehen - lahmzulegen, bleibt nur

noch die Möglichkeit es trocken zulegen. Dieser Weg ist eigentlich leicht. Die ersten Schritte dazu

müssen lauten, zum einen erst einmal das Problem in seiner ganzen Dimension zu erfassen und dem

Dogma, man könne eh nichts dagegen tun, abzuschwören. Mit Konsumverzicht, Änderung der

Lebensgewohnheiten, dem Wählen echter Alternativen wie etwa einer offenen Demokratie oder dem

Unterstützen kleiner, regionaler wirtschaftlicher Strukturen und dem Kauf von Biowaren ist schon

vieles getan. Darüber hinaus gibt es viele weitere Maßnahmen, die man treffen kann. Man sollte sich

auch überlegen, welche Welt man seinen Nachkommen hinterlassen möchte. Denn eines ist gewiss,

was auch immer kommen mag, der Mensch aus der breiten Masse wird auf keinen Fall gut

aussteigen, wenn er so weiter macht, wie bisher. Ein Zitat von Ajamu Baraka, Bundesorganisator der

Black Alliance for Peace und 2016 Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten der Grünen Partei in den

USA, macht dies deutlich:

 

"Der Faschismus ist eine spezielle Ausformung kapitalistischen Verfalls."

 

Der Verfall ist bereits zu spüren, lassen wir ihn nicht mit Armut, Krieg und Zerstörung einhergehen!

Handeln wir jetzt, indem wir gemeinsam, aber aus eigenständiger, auf Ethik basierender Motivation

heraus, etwas völlig Neues schaffen: Ein gesellschaftliches Miteinander, in dem Kulturen bewahrt

bleiben, niemand Verlierer und Krieg ein Fremdwort ist. Naiv? Vielleicht, jedenfalls weit weniger naiv

als die Annahme, dass ewiges Wachstum, stetige Umverteilung von Kapital und zunehmende

Aufrüstung auf Dauer Frieden und Wohlstand schaffen.